Alte Fehler – Neue Fehler

Wenn die Überarbeitung zur Belastung wird

(Lesedauer: 8 Minuten)

»Ich verliere den Überblick. Manches habe ich fünfmal geändert, nur damit es am Ende wieder wie am Anfang ist. Ich habe keine Lust mehr! Ich will das Ding nur noch fertig haben und wegschicken. Egal wie.«


Vor eineinhalb Jahren kam Annika mit ihrem Herzensprojekt auf mich zu. Sie erzählte mir, das Thema mental health, das sie in der Romance behandeln würde, sei ihr sehr wichtig. Also würde sie ihr Manuskript gern optimal überarbeiten und es gern »richtig machen«.

Nach einem Kennenlernen am Telefon einigten wir uns auf eine Zusammenarbeit. Ich sollte ihr ein Lektorat einer Leseprobe von 150 Seiten anfertigen. Ich arbeitete sehr ausführlich und erstellte ihr eine Übersicht, an welchen Punkten sie skriptübergreifend arbeiten musste. Ziel war es, dass sie das Manuskript selbstständig für die Bewerbung bei einem Verlag vorbereiten konnte.

In meinem Lektorat lieferte ich Hinweise zu

der Figurenentwicklungder Erzählperspektiveder Menge an Figuren
dem Übermaß an Monologender Erzählzeitden Dialogen und ihrer Tiefe
der Prämissedem Spannungsbogendem roten Faden
der Logik und SchlüssigkeitStorytelling-Aspekten bzgl. Anfang, Hauptteil und SchlussAbsätzen
Wort- und PhrasenwiederholungenShow don’t tellFüllwörtern
MetaphernVergleicheWortpassung und -wahl
PräzisionSyntaxund weiteren Dingen

Als ich fertig mit allem war, telefonierten Annika und ich zum Abschluss. Die wichtigsten Aspekte erklärte ich ihr mündlich. Ich lieferte ihr Beispiele, wie sie Stolpersteine im Manuskript ausbügeln konnte und wo sie sich themenbedingt Unterstützung holen oder beim Verlag geben lassen sollte.

Annika bedankte sich bei mir. Sie sagte, die Schwachstellen würden ihr einleuchten und sie wäre sehr froh, dass ich den Finger in die Wunde gelegt hatte. Sie erzählte mir, dass sie das, was ihrem Manuskript fehlte, nie so genau hatte herausfiltern können. Dank meiner Impulse hätte sie nun einige Ideen und freue sich schon auf die Überarbeitung.

Ich war erfreut darüber, ihr so gut helfen zu können, und sagte ihr, dass ich mich schon auf ihr Buch in der Buchhandlung freute.

Damit endete unsere Zusammenarbeit. Dachte ich …

Denn Ende letzten Jahres meldete sich Annika erneut bei mir. Ich dachte zunächst, es ginge um einen neuen Auftrag. Aber nein. Sie schrieb mir eine sehr lange E-Mail darüber, wie sehr sie mit der Skript-Überarbeitung hadern würde und dass sie zunehmend verzweifelt war.

»Die Überarbeitung verfolgt mich bis in den Schlaf. Ich rotiere die ganze Zeit. Ich ändere Kapitel-Anfänge, nur um sie am nächsten Tag wieder zu ändern oder zu verwerfen. Bei den Dialogen stellen sich mir alle Nackenhaare auf. Ich habe auch das Gefühl, als würde ich alte Fehler durch neue Fehler ersetzen.«

Ich war besorgt. Vor einem Jahr klang sie so enthusiastisch. Und nun das. Sofort schlug ich ihr ein Telefonat am selben Tag vor. Ich wollte sie im ersten Schritt beruhigen und aufbauen.

»Ich verliere den Überblick. Manches habe ich fünfmal geändert, nur damit es am Ende wieder wie am Anfang ist. Ich habe keine Lust mehr! Ich will das Ding nur noch fertig haben und wegschicken. Egal wie.«

Einfühlsam erklärte ich ihr, dass Druck und Verzweiflung keine guten Berater waren. Dass diese Tiefs normal waren und dass alle Schreibenden diese Phase mindestens einmal mit ihrem Skript durchmachten. Ich sagte ihr, dass sie es früher oder später bereuen würde, etwas Halbfertiges und dem Gefühl nach „so Schlechtes“ an einen Verlag zu schicken.

»Und was soll ich stattdessen tun? Manchmal wünschte ich, jemand würde neben mir sitzen und meine Gedanken ordnen.«

Ich lachte leise und sagte: »Wenn du das möchtest, können wir das gern machen. Ich werde zwar nicht neben dir sitzen, aber wir können uns gern einmal wöchentlich im Zoom treffen und deine Baustellen und Knoten im Kopf direkt an Textstellen besprechen.«

Und das taten wir. Über zehn Wochen hinweg.

Wir beschäftigten uns anhand ihres Manuskripts mit

  • Handlungsaufbau, Spannung, Plot: Welche Plot-Points sind wichtig? Was darf nicht fehlen? Wie baue ich sie passend zueinander auf? Welche Impulse gibt es aus unterschiedlichen Modellen?
  • Kapitelanfängen: Wie leite ich ein Kapitel gut ein?
  • Übergängen: Wie fasse ich Handlung zusammen, die erwähnenswert, aber nicht unmittelbar relevant ist? Wie leite ich in die Handlung über?
  • Kapitelenden: Wie setze ich gute Cliff-Hanger, ohne Lesende mit der Nase drauf zu stoßen?
  • Show don’t tell: Welche Strategie hilft?
  • Dialogen: Wie werden sie lebendig, realistisch und tiefgreifend?
  • Monologen: Wann sind sie korrekt geschrieben? Wie hängen sie von der Erzählperspektive ab? Wie verwandle ich gedankliche Erklärungen zu nachvollziehbaren, erlebten Gedanken?

Am Tag vor einer Session sendete Annika mir eine Textstelle von knapp 400-500 Wörtern. Ich schaute mir die Passage und die konkrete Fragestellung (Kapitelanfang, Dialog, Monolog, o. Ä.) dazu an. Am nächsten Tag lektorierten wir sie gemeinsam innerhalb einer Stunde.

Nach der Session überarbeitete Annika die Textstelle anhand unserer Notizen und sendete sie mir noch einmal zur Sichtung zu. Bei Bedarf sprachen wir erneut darüber.

Für uns gab es zwei faszinierende Aspekte an dieser Vorgehensweise:

  1. Nach der Hälfte der Sitzungen veränderten sich ihre eingesendeten Textpassagen zum Besseren, noch bevor wir darüber gesprochen hatten.
  2. Innerhalb einer Stunde konnte ich ihr mündlich unfassbar viel auf den Weg geben und erklären, was anhand von Lektoratskommentaren vorab nicht möglich war.

Vor kurzem schrieb Annika mir, ob ich ihr Exposé für die Verlagsbewerbung demnächst lektorieren könnte.

Natürlich habe ich ja gesagt.

So und so ähnlich …

ist es zuletzt mit meinen KundInnen tatsächlich gewesen. Ich habe mehrere Coachings gemacht und sie für Euch zu einer Geschichte zusammengefasst. Der KundInnen-Name ist natürlich abgeändert.

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