Schreibtipp-Thema: Charakter-/Figurenerstellung im Detail:

Bild von pixabay.com

Wer ein fiktives Buch schreibt, steht früher oder später vor der Charakterentwicklung bzw. Figurenerstellung. 

Manchen Autor*innen fällt das extrem leicht. Sie haben ein konkretes Bild und Verhalten im Kopf und geraten damit nicht ins Straucheln. Manche entwickeln die Figur sogar erst im Laufe der Geschichte. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern die Figur sich ihrer Persönlichkeit entsprechend schlüssig und nicht sprunghaft verhält. Sie muss realistisch und somit greifbar für den*die Leser*in sein. 

Es ist völlig normal, dass dieses Unterfangen nicht jedem*r Autor*in so sagenhaft leicht fällt. 

Ich zähle mich zur letzteren Gruppe dazu. Bei jeder noch so kleinen Handlung ergibt sich ein Wust aus Charaktereigenschaften, Verhaltensmöglichkeiten und Figurenintentionen/-motivationen in meinem Hirn. Diese machen es mir verdammt schwer, zu entscheiden, wie meine Figur letztlich ist und wie sie handeln würde. In solchen Momenten fließen manchmal auch meine Persönlichkeit, mein Handlungsrepertoire und meine Wünschen in die Situation mit ein. Letzteres soll natürlich zu großen Stücken vermieden werden.

Daher habe ich mich hingesetzt und einen Figuren- und Charakterentwicklungsbogen erstellt. Er ist angelehnt an meine Beiträge zur schlüssigen (emotionalen) Charakterentwicklung und greift außerdem auf die fünf bzw. sechs psychologischen Persönlichkeitsdimensionen (NEO-FFI bzw. HEXACO) zurück. 

Im Folgenden werde ich euch den Bogen Stück für Stück erläutern. Am Ende des Beitrags könnt ihr euch eine Ausfüllvorlage für den Eigenbedarf* herunterladen. 


1. Basis-Charakter: Vorgeschichte und Ausgangslage 

Zum Verständnis könnt ihr euch dazu noch einmal meinen Beitrag zur schlüssigen (emotionalen) Charakterentwicklung anschauen. 

Die Vorgeschichte eurer Figur meint einschneidende Erlebnisse und Erfahrungen, die vor dem Einsetzen eurer Geschichte stattgefunden haben und die Persönlichkeit eurer Figur maßgeblich mitbestimmen. Hier lohnt es sich, zwei bis vier vorgeschichtliche Begebenheiten festzuhalten. 

  • Beispiele:
    • Trennung der Eltern,
    • Jobverlust,
    • Feststellung einer Hochbegabung im Kindesalter,
    • Miterleben eines Gewaltaktes, o.ä. 
  • Im Fantasy- oder Sci-Fi-Bereich kann das natürlich ganz andere Dimensionen annehmen:
    • Kriegserlebnisse zwischen unterschiedlichen Völkern,
    • Apokalypse,
    • Besiedelung des Mars, o.ä. 

Dann entwickelt ihr die Ausgangslage, in der sich eure Figur befindet. Dafür macht ihr euch Notizen zu folgenden Punken: 

  • Familiensituation 
  • Job 
  • Beziehungsstatus 
  • Freunde 
  • Hobbies 
  • Bewusster/unbewusster Hauptzwist der Figur 
  • Bewusste/unbewusste Zukunftswünsche der Figur 
  • Besonderheiten 

2. Persönlichkeit 

Habt ihr die oben genannten Dinge festgehalten, zeichnet sich schon ein ungefähres Bild ab, wer eure Figur eigentlich ist. Manchen Autor*innen reicht dieser Teil schon aus, um seine Figur zu kennen und sie im Roman zu verwirklichen. Andere Schriftsteller*innen sind sich jedoch nach wie vor unsicher. Auch hier zähle ich mich wieder dazu. Für mich ist es sehr schwer, zwischen dem, wie meine Figur wirklich ist, und dem, wie sie sich der Umstände wegen verhält, zu unterscheiden (was ja durchaus mal einen Widerspruch darstellen kann). 

Daher habe ich mir die psychologischen Persönlichkeitsdimensionen einmal genauer angeschaut und für meine Figuren festgehalten, wie sie ihrer „Veranlagung“ nach sind und wie sie sich ihrer „Umwelt“ wegen verhalten. Das kann sehr facettenreich und manchmal entgegengesetzt aller Erwartungen sein. Es konkret in einem Bogen festzuhalten, hilft mir, in jeder individuellen Situation, in die meine Figur gerät, die passendste Verhaltensreaktion auszuwählen, sodass sich ein komplexes, tiefgreifendes Figurenbild entwickelt. 

A. Offenheit für Erfahrungen (situationsbezogen; Aufgeschlossenheit als Interesse und Ausmaß der Beschäftigung mit neuen Erfahrungen, Erlebnissen und Situationen)

  • Hoch ausgeprägt
    • erfinderisch
    • neugierig
    • wissbegierig
    • unkonventionell
    • intellektuell
    • fantasievoll
    • experimentierfreudig
    • künstlerisch interessiert
    • kritisch hinterfragend
    • Urteile unabhängig von anderen und Normen und Werten
    • begeisterungsfähig
    • ironisch
  • Niedrig ausgeprägt
    • nicht erfinderisch
    • nicht neugierig
    • nicht wissbegierig
    • konventionell
    • weniger intellektuell
    • wenig fantasievoll
    • nicht experimentierfreudig
    • künstlerisch desinteressiert
    • nicht kritisch hinterfragend
    • Urteile abhängig von anderen und Normen und Werten
    • nicht begeisterungsfähig
    • konservativ
    • einfallslos

B. Gewissenhaftigkeit (situationsbezogen; Perfektionismus als Grad der Selbstkontrolle, Genauigkeit und Zielstrebigkeit)

  • Hohe Ausprägung
    • genau
    • selbstkontrolliert
    • zielstrebig
    • lernerfolgreich
    • organisiert
    • sorgfältig
    • planend
    • strukturiert
    • effektiv
    • vorausschauend
    • verantwortlich
    • zuverlässig
    • überlegt/besonnen
    • fleißig
    • vorsichtig
    • gründlich
    • präzise
    • hohe Aufmerksamkeit fürs Detail
  • Niedrige Ausprägung
    • ungenau
    • nachlässig
    • nicht zielstrebig
    • weniger erfolgreich
    • unorganisiert
    • schlampig
    • zerstreut
    • unstrukturiert
    • ineffektiv
    • nicht vorausschauend
    • unverantwortlich
    • unzuverlässig
    • unüberlegt/unbesonnen
    • faul
    • unvorsichtig
    • nicht gründlich
    • unpräzise
    • geringe Aufmerksamkeit fürs Detail

C. Extraversion (zwischenmenschlich; Geselligkeit als Grad der Aktivität und des zwischenmenschlichen Verhaltens)

  • Hohe Ausprägung
    • gesellig
    • aktiv
    • gesprächig
    • personenorientiert
    • herzlich
    • optimistisch
    • heiter
    • kontaktfreudig
    • lebhaft
    • empfänglich für Anregungen und Aufregung
    • durchsetzungsfähig
    • aufbrausend/aggressiv
  • Niedrige Ausprägung (introvertiert)
    • gern allein (dann auch aktiv)
    • passiv
    • ruhig
    • unabhängig
    • verschlossen
    • weniger optimistisch
    • weniger heiter
    • zurückgezogen
    • zurückhaltend
    • reserviert
    • weniger empfänglich für Anregungen und Aufregung
    • nicht durchsetzungsfähig
    • nicht aufbrausend/aggressiv

D. Verträglichkeit (zwischenmenschlich)

  • Hoch ausgeprägt
    • altruistisch (selbstlos, uneigennützig, aufopfernd)
    • verständnisvoll
    • wohlwollend
    • mitfühlend
    • hilfsbereit
    • überzeugt von Hilfsbreitschaft anderer
    • vertrauensvoll
    • kooperativ
    • nachgiebig
    • sanft
    • flexibel
    • geduldig
    • beherrscht
    • weniger häufig negative Emotionen
    • emphatisch
    • empfindsam
  • Niedrig Ausgeprägt
    • nicht altruistisch
    • egozentrisch
    • weniger verständnisvoll
    • streitbar
    • weniger wohlwollend
    • weniger mitfühlend
    • weniger hilfsbereit
    • misstrauisch
    • wettbewerbsorientiert
    • kämpferisch für eigene Interessen
    • übellaunig
    • stur
    • ungeduldig/cholerisch
    • unbeherrscht
    • häufiger negative Emotionen
    • weniger emphatisch
    • nicht empfindsam

E. Emotionalität (selbstbezogen; Emotionale Labilität als Faktor für individuelle Unterschiede im Erleben von negativen Emotionen; vs. emotionale Stabilität/Zufriedenheit/Ich-Stärke)

  • Hohe Ausprägung
    • ängstlich
    • nervös
    • unzufrieden
    • angespannt
    • traurig
    • unsicher
    • verlegen
    • länger anhaltende Empfindsamkeit
    • hypersensibel (extrem emphatisch)
    • sorgenvoll
    • unrealistisch
    • stressanfällig
    • abhängig von Bestärkung anderer
    • emotional
    • sentimental
    • verletzlich
    • impulsiv
    • depressiv
    • reizbar
  • Niedrige Ausprägung
    • weniger ängstlich
    • ruhig
    • zufrieden
    • entspannt
    • sicher
    • selten negative Gefühle (nicht zwingend verbunden mit häufigeren positiven Gefühlen)
    • kürzere Empfindsamkeit
    • nicht hypersensibel (wenig emphatisch)
    • realistisch
    • stressresistent
    • unabhängig von Bestärkung anderer
    • stark
    • stabil
    • selbstsicher
    • mutig
    • hart
    • ausgeglichen
    • weniger depressiv
    • weniger reizbar

F. Ehrlichkeit – Bescheidenheit (zwischenmenschlicher und sozialer Faktor hinsichtlich Strategien zur Gewinnmaximierung bzw. dem Interesse daran)

  • Hohe Ausprägung
    • aufrichtig
    • ehrlich
    • nicht manipulativ
    • Regeln einhaltend
    • kein Interesse an Geld/Luxus
    • nicht Statusorientiert
    • fair
    • treu
    • loyal
    • bescheiden
    • rechtschaffend
  • Niedrige Ausprägung
    • unaufrichtig
    • unehrlich
    • für eigenen Profit manipulativ
    • für eigenen Profit Regen brechend
    • motiviert durch materiellen Gewinn
    • halten sich für wichtig
    • gerissen
    • betrügerisch
    • gierig
    • heuchlerisch
    • prahlerisch
    • pompös

Wie euch auffällt, überschneiden sich mache Beschreibungen/Adjektive. Das kommt dadurch, dass ich die Dimensionen des NEO-FFI und des HEXACO gemischt habe. Außerdem kommt es bei manchen Beschreibungen auch darauf an, ob sie zwischenmenschlich, selbstbezogen oder situationsbezogen gerichtet sind.

Für den Charakterbogen würde ich jede Eigenschaft bzw. die wichtigsten Punkt für Punkt durchgehen und für meine Figur ankreuzen. Je nach Kreuzen-Verteilung könnt ihr dann festlegen, ob eure Figur die entsprechende Persönlichkeitseigenschaft hoch, mittel oder niedrig ausgeprägt hat.


3. Zurück zur Ausgangslage – Umwelteinflüsse

Als letzten Schritt zur Figurenerstellung im Detail könnt ihr noch einmal auf die Ausgangslage eurer Figur zurückkommen. Wie ich am Anfang bereits angesprochen habe, können sich Figuren auch entgegengesetzt ihrer Persönlichkeit verhalten. Das kann bedingt durch ihre Umwelt und unterschiedliche Situationen beeinflusst sein.

Haltet ihr eure Notizen zu folgenden Stichpunkten …

  • Familiensituation 
  • Job 
  • Beziehungsstatus 
  • Freunde 
  • Hobbies 
  • Bewusster/unbewusster Hauptzwist der Figur 
  • Bewusste/unbewusste Zukunftswünsche der Figur 
  • Besonderheiten 

… neben eure Angaben zu den Persönlichkeitseigenschaften, könnt ihr euch als Besonderheit vermerken, ob sich eure Figur bspw. zuhause bei der Familie auch exakt nach seinen Persönlichkeitseigenschaften verhält oder eben doch anders. Dieses Verfahren kann euch dabei helfen, herauszustellen, inwieweit sich eure Figur verstellt. Der Wust hinsichtlich unterschiedliche Situationen und Umwelteinflüsse in eurem Kopf kann sich dadurch sehr gut auflösen.

Wollt ihr eure Figuren nun gern im Detail ausarbeiten? – Dann ladet euch doch einfach folgenden Charakterbogen* zum Ausfüllen herunter:

Ich wünsche euch viel Spaß damit und würde mich über eine Rückmeldung freuen, ob der Beitrag und der Bogen hilfreich für euch sind.

Liebe Grüße,

Eure Raphaela


*Der Bogen unterliegt dem Urheberrecht und ist nach eigenständigem Download nur für den Eigenbedarf zu gebrauchen. Er darf nicht privat oder für kommerzielle Zwecke verwendet oder weiter vertrieben werden.

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